Andacht

Geistlicher Impuls anlässlich der Begegnung evangelischer Frauen aus Bayern und Sachsen am 10. September 2021 in Leipzig



Nikolaikirchhof Leipzig | Foto: Martin Geisler, CC BY-SA 3.0

Hebräer 13.14: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“

siehe auch Bibelstelle bei www.die-bibel.de

Evangelische Frauen aus Bayern und Sachsen begegnen sich in Leipzig – als Messestadt die sächsische Großstadt mit dem stärksten weltstädtischen Flair, eine Stadt, in der sich in den 80er Jahren Widerstand regte gegen die Stagnation in der DDR. Die Friedensgebete und Proteste hier waren eine der stärksten Impulse für die Friedliche Revolution 1989. Ich denke nach über einen Vers aus dem Hebräerbrief, der damals Menschen bewegte, die sich nicht mit den Verhältnissen abfinden wollten:
„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“

Wenn wir uns diesem Vers stellen, ist es gut, erst einmal nach dem Entstehungs-Kontext zu fragen. Der Hebräerbrief gehört zur sogenannten Briefliteratur des Neuen Testamentes. Über den Autor ist uns nichts bekannt. Die neuere Forschung hält es sogar für möglich, dass der Text von einer Autorin verfasst wurde.
Adressat_innen des Hebräerbriefes waren christusgläubige Jüdinnen und Juden im 1. Jahrhundert. Aufgrund ihres Glaubens wurden sie angefeindet, teilweise verfolgt und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Sie hofften auf die unmittelbar bevorstehende Wiederkehr Christi. Auf dieses Ereignis hin lebten sie und nahmen Ächtung und Verfolgung durch ihre Umwelt und die römische Besatzungsmacht auf sich. Aber als ihre Erwartung auf baldige Erlösung nicht eintrat, wurden sie mutlos. Sie fingen an, sich vom Christusglauben abzuwenden und in ihr altes Leben zurück zu kehren. Die Gemeinden drohten auseinanderzufallen.

In diese Situation trifft die Botschaft des Hebräers. Die Entmutigten sollen ermutigt werden, ihren Glauben nicht aufzugeben und beieinander zu bleiben in der Gemeinde.
Der erste Teil des Verses „Wir haben hier keine bleibende Stadt“ nimmt den Istzustand in den Blick, ihre Stadt – und Stadt steht hier für die Gesellschaft oder das Gemeinwesen – ist keine, in der sie gut leben können.
Im zweiten Teil richtet sich der Blick auf die Zukunft „Sondern die zukünftige suchen wir“. Die zukünftige Stadt weist auf das himmlische Jerusalem. Dort – und das ist die Heilserwartung – werden all die irdischen Probleme überwunden sein und alle werden in Frieden miteinander leben. Die Hoffnung auf diese zukünftige Stadt soll den Christinnen und Christen in den ersten Gemeinden helfen, ihr Leben in der Gegenwart zu bewältigen.

Eingebunden ist dieser Vers in eine Aufzählung von Empfehlungen. Sie beziehen sich auf das gegenwärtige Zusammenleben in der Gemeinde und enthalten ganz praktische Hinweise für das tägliche Leben: Dazu gehört die Pflege der Gastfreundschaft, das Mitgefühl für Gefangene, Gutes zu tun und miteinander zu teilen.

Heute – fast 2000 – Jahre später, begegne ich diesem Bibelvers in einem ganz anderen Kontext:
Was bedeutet die Aussage „Wir haben hier keine bleibende Stadt“ für uns? Trifft sie auf uns zu? Was wäre Ihre Antwort? Meistens leben wir ja recht gut hier in Leipzig, München oder anderen Orten in Deutschland. Verfolgt werden wir wegen unseres Glaubens nicht. Aber bei genauem Hinsehen wird doch offenkundig, auch in unserer Stadt – unserer Gemeinschaft ist vieles ungerecht verteilt. Nicht alle haben die gleichen Chancen.
Und dann die Aufforderung „Sondern die zukünftige suchen wir.“ Anders als die ersten Christen glauben wir nicht mehr an die baldige Wiederkehr Christi. Ich jedenfalls lebe nicht unbedingt in der Erwartung, dass sie zu meinen Lebzeiten eintritt. Die Aufforderung aber, nach Wegen zu suchen, wie wir leben wollen, bleibt. Wir können uns fragen, wie wir zusammenleben wollen in „unserer Stadt“ in Ost und West, Nord und Süd, zwischen den Geschlechtern. Wie wollen wir es halten mit der Gastfreundschaft z.B. gegenüber Migrant_innen, mit dem Mitgefühl oder mit dem Teilen? Diese Fragen stehen für das tägliche Leben heute an. Antworten zu finden und sie auch zu leben, fordert uns heraus.

Die Verheißung der zukünftigen Stadt macht Mut für ein sorgendes und achtsames Miteinander in unserer „Stadt“.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“
Amen

Kathrin Pflicke | Landesleiterin der Frauenarbeit der EVLKS